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1.4.06

Berlusconi in Bern - Italienische Obsessionen

In einer Woche entscheidet Italien, ob die Ära Berlusconi zu Ende geht. Das bringt auch Berner Gemüter in Wallung – weil wir so gerne ein bisschen italienisch sind. Am liebsten italienischer als die Italiener.

Italien ist hier. In Bern. In uns. Aber jetzt das: Zwei Herzen schlagen in unserer Brust. Das eine für unsere Sehnsucht nach dem südlichen Licht, nach ein bisschen Chaos, nach Stil, Eleganz und grossartigem Essen. Das andere schlägt gegen Berlusconi, den Inbegriff des schmierigen Machtmenschen, zynischen Demagogen und gelifteten Milliardärs. Deshalb sind die Wahlen in Italien auch für Bern von Bedeutung – weil sie unsere italienischen Obsessionen berührt.

Bruno Moretti ist Professor für Italienische Sprache und Literatur an der Universität Bern und pendelt als Tessiner routiniert zwischen Italianità und Deutschschweiz. Aber Italien macht es ihm nicht leicht. Moretti liebt das Land – aber das Entsetzen über die politische Entwicklung ist ihm anzusehen. Befreundete italienische Juristen sagen ihm, eine weitere Ära Berlusconi wäre für den Rechtsstaat eine Katastrophe.

In seinem kleinen Büro im vierten Stock der Unitobler blickt Moretti tief in die Italien-Sehnsucht: «Viele Schweizer», sagt Moretti, «haben irgendwie das Gefühl, Italien sei eine Schweizer Entdeckung.» Die gar nicht so alt ist: In den 60er- und 70er-Jahren brachen die Schweizer, plötzlich automobil, auf, fuhren nach Italien, eroberten den Süden als Touristen und brachten Sehnsüchte zurück.

Juventus und Panna cotta

Italienische Einwanderer, zuvor diskriminierte «Tschinggen» und «Spaghettifresser», gehörten plötzlich zu uns und schoben eine Mediterranisierung an, die bis heute anhält – beim Essen, in der Mode, im Alltagsverhalten. Wir sind Juventus-Fans, sitzen in Gartenbeizen, die sich Riviera nennen, rühren die Salatsauce mit Balsamico an und essen längst nicht mehr nur Spaghetti und Pizza, sondern Bruschette, Focaccia, Panna cotta. Und fühlen uns grossartig. «Wir holen Italien laufend zu uns», kommentiert Moretti, was aber nur unseren Entdeckungsdrang befeuere: «Wir Schweizer suchen immer wieder ein neues, ein anderes Italien.»

Unser Italien

Am liebsten in Bern. «Buongiorno.» Monika De Simone bittet in ihr Büro, drückt auf den Knopf der Lavazza-Kaffeemaschine, zündet sich eine Zigarette an. Sie ist seit 18 Jahren Mitinhaberin und Geschäftsführerin des traditionellen italienischen Delikatessengeschäfts Ferrari an der Münstergasse – und eine aufmerksame Beobachterin der Berner Italianità. Sie überblickt einen eindrücklichen Wandel der Italo-Obsessionen.

1921 eröffnete die Gründerfamilie Ferrari – etwa zeitgleich mit Barisi – das erste Italo-Food-Geschäft in Bern, ausgerichtet auf die eingewanderten italienischen Gastarbeiter. Jahrzehntelang standen die Leute am Samstag bis auf die Gasse hinaus Schlange, um Zutaten für den Sugo oder die Pasta einzukaufen, die in der Schweiz nicht erhältlich waren. «Das hat sich radikal verändert», sagt De Simone. Italienische Secondos und Terzos interessieren sich weniger für die Feinheiten der italienischen Küche.

Schweizer Italiener

Die Kundschaft ist vorwiegend schweizerisch – und ausgerechnet die ist es, die mit persönlichem Einsatz in der Küche dafür besorgt ist, echt italienische Traditionen weiterzutreiben.

Wir überholen die Italiener auf italienisch: Das spezielle Mehl für selber gemachte Pasta, Gnocchi oder Polenta, das früher ausgewanderte Italienerinnen aus Heimweh kauften, verlangen heute Schweizer aus Sehnsucht nach Italien.

Genau deshalb darf sich Monika De Simone keine Halbheiten leisten. Alle Angestellten sind Italiener, denn «um Italianità zu verkaufen, muss man zumindest Italienisch grüssen und mit dem Herz dabei sein». Dass heute alle Grossverteiler italienische Linien führen, ist für das Traditionsgeschäft Ferrari eine Herausforderung: «Wir suchen ständig nach neuen italienischen Produkten, die exklusiv und qualitativ hochwertig sind.»

Für Ostern etwa hat De Simone «Colombe» – Tauben aus Hefeteig – im Sortiment, die von einem norditalienischen Kleinbetrieb exklusiv für Ferrari verpackt und mit grandiosen Schleifen verziert werden. Wer bei Ferrari einkauft, will sich einen Moment lang in Italien fühlen – in seinem Italien.

Zum Italien-Gefühl in den Lauben Berns gehören lockere Sprüche zur italienischen Politik. «Natürlich sprechen mich die Kunden im Geschäft ständig auf Berlusconi an, oft mit spöttischem Unterton», sagt Monika De Simone. Sie selber, die zehn Jahre lang in Italien gelebt hat, verfolgt die italienische Politik lustvoll «wie ein sagenhaftes Theater». Ihr Wahlrecht wird die Doppelbürgerin wahrnehmen – und ihre Stimme dem Lager von Berlusconi-Konkurrent Romano Prodi geben.

Das freut Peter Eichenberger, Co-Leiter des Kornhausforums Bern, Autor im Fussball-Blog «Zum runden Leder» und Italien-Gänger seit den 70er-Jahren. Mindestens einmal im Jahr reist er nach Italien – obwohl er in den letzten Jahren ein kleines Problem hatte. Eichenberger, der Linke, ist Fan des Mailänder Arbeiter-Fussballclubs Milan – dessen Besitzer aber sein erklärtes Feindbild ist, Premierminister Silvio Berlusconi.

«Forza Silvio!»

Eichenberger ist das Problem offensiv angegangen – er hat im «Runden Leder» den ironisch gemeinten «Forza Silvio!»-Fanclub gegründet, dessen Mitgliederzahl er als Präsident im Vorfeld der Wahlen in Italien indessen unter Verschluss hält. Eichenbergers Italien wandelte sich ständig – die Sehnsucht blieb stark. Er erinnert sich an die 70er- und 80er-Jahre, als Italien auf Linke einen ungeheuren Reiz ausübte. Der Kommunismus, das Gespenst des Kalten Kriegs, ging in Italien um, und man konnte mit ihm reden. Kommunistische Arbeiter und Studenten liefen massenhaft, unbeschwert und landesweit auf den Strassen herum. Als politischer Sehnsuchtsort hat Italien längst ausgedient – selbst, wenn Berlusconi in einer Woche die Macht an die Linke, die sich ohnehin sofort zerstreitet, verlieren sollte.

Heute geht Eichenberger gerne zum Coiffeur, wenn er in Italien ist, und ihn fasziniert, dass «die Pasta in jeder Beiz im hintersten Winkel des Landes al dente ist». Aber es ist der Fussball, der ihn mit dem Italien der Ära Berlusconi versöhnt. Der «Cavaliere» führe Milan hervorragend, anerkennt Eichenberger – und menschlich: Im gnadenlosen Menschengeschäft bewahre Milan eine familiäre Wärme, indem verdiente Spieler nicht einfach ausgemustert, sondern oft selbst übers Karriereende hinaus weiterbeschäftigt würden.

Das zeichnet die Berner Italien-Obsession aus: Immer einen Weg zu finden, im wirklichen Italien auch sein Italien zu erkennen. Italien lässt harte Ideologen plötzlich sanft werden, in unserer Italien-Sehnsucht erlauben wir uns Wiedersprüche, die wir uns im Berner Leben verbieten.

Zum Glück reichen ein paar Handgriffe, zu unserer Italianità zu kommen. Mit der rosaroten «Gazzetta dello Sport» im Anschlag an die Bar gelehnt einen «Latte macchiato» bestellen – und schon fühlt man einen Moment lang grandios italienisch. Obwohl der «Latte macchiato», der mit geschäumter Milch im Glas verdünnte Caffè, Italianità made in Switzerland ist. «Egal», sagt Adrian W. Iten, Initiant und Mitbesitzer der «Adriano’s»-Bar am Theaterplatz, «alles, was nach Italo aussieht, ist einfach extrem cool.»

Itens hervorragend laufende Bar ist eine Art Laboratorium der verselbständigten Berner Italianità. Iten ist Schweizer, nach eigener Einschätzung eher mässiger Italien-Kenner und macht überhaupt nicht auf Italo. Sein Lokal atmet zwar den schlichten Charme italienischer Grossstadt-Bars und setzt auf erstklassisgen italienischen Kaffee, ist auf der Speisekarte aber international. Es sind die Berner Kunden, die bei «Adriano’s» unbedingt die Italos geben wollen.

Italienische Urbanität

Mit Begeisterung beobachtet Iten die wachsende Zahl von Business-Leuten aus den umliegenden Büros, die über Mittag in die Bar hetzen, in italienischer Art schnell einen Espresso hinunterstürzen und mit Münzen aus dem Hosensack bezahlen. «Wir kaufen mit dem Espresso ein Stück italienischer Lässigkeit», sagt Iten und demontiert in drei Sätzen den Irrglauben an die unübertreffliche italienische Kaffeekultur: «Die Italiener machen nicht den besten Kaffee. Sie zelebrieren eine von vielen Arten der Kaffeezubereitung, nämlich heisses Wasser mit Druck durch fein gemahlenes Kaffeepulver pressen, was den intensiven Espresso ergibt. Den machen Norweger heute aber besser.»

Der Caffè hat einen anderen Mehrwert. «In meiner Bar verkaufe ich letztlich soziale Kontakte», sagt Iten. Wenn Berner in ihre Italianità schlüpfen, fällt ihnen das leichter. Und über die italienische Lässigkeit findet Bern nach Itens Einschätzung auch zu etwas grossstädtischem Flair. Die Piazza Kornhaus-/Theaterplatz mit dem «Adriano’s», dem neuen «Cesary» und dem legendären «Lorenzini» ist inzwischen so etwas wie eine kleine urbane Meile Berns.

Das Kleid Italianità

Die Italianità ist in Bern eine Art Verständigungsmodus geworden. Jeder ist ein bisschen italienisch – aber nur so viel, dass er sich selber nicht verlassen muss. Als Temporär-Italiener kann man aufbrechen, sich lässig und weltläufig geben, ohne Bern verraten zu müssen.

Wir verpflichten uns zu nichts. Italianità verstehen wir als Kleid, in dem wir eine gute Falle machen, das wir aber jederzeit ausziehen können.

Salvatore Casaluci eröffnete vor 18 Jahren neben dem Burgerspital die erste Berner Kleiderboutique mit Italo-Labels wie Fiorucci, Energy, Replay oder Diesel.

Heute behauptet er sich mit seinem Trend-Laden «Casalucis» hartnäckig, obschon die grossen Bekleidungsketten durchweg auf Italianità setzen. Natürlich, sagt Casaluci, ziehen sich die Berner heute besser an als früher, viele nehmen den italienischen Style auf. Aber man könnte mehr machen – bei den Bernern hört die Italianità meist am Hosensaum auf.

«Qualität und Eleganz der italienischen Schuhmode haben sich hier noch nicht durchgesetzt», stellt Casaluci fest – genau so wenig wie bei den Kinderkleidern. «Die italienischen Designer haben immer auch Kinderlinien, und zumindest am Sonntag zieht man die Bambini in Italien schön an.»

Casaluci vermisst in Bern manchmal die Poesie, die Lebensfreude, das Selbstbewusstsein, die Unbeschwertheit, die für ihn Italianità ausmacht. «Man muss das Leben als Bühne sehen», sagt er. Genau das habe einer extrem gut begriffen: Silvio Berlusconi.

«Berlusconi ist ein Vorbild für mich als Unternehmer», sagt Doppelbürger Casaluci, der dem «Cavaliere» die Stimme geben wird: «Er ist gepflegt, immer gut angezogen, ein bisschen korrupt. Wie ein richtiger Italiener eben.»

Der unser Italien manchmal in Frage stellt.

www.espace.ch Jürg Steiner 31.03.2006

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